
Wo wir gehen
Wie entstehen Wege, wie wählen wir sie aus – und warum bewegen wir uns überhaupt? Robert Moor untersucht „Unsere Wege durch die Welt“.
„Spaziergang ist schon jetzt mein Unwort des Jahres“, meinte ein Freund kürzlich zu mir. Nach einem Jahr der Pandemie kennen wir jeden Stein, Strauch und Baum in unserem Stadtteil – der sich noch dazu mitten in Berlin befindet und weniger von Grün denn von Beton geprägt ist. Aber was soll man sonst tun, wenn alles geschlossen ist und Reisen nicht möglich? Also spazieren, laufen, wandern wir durch die Gegend, reihen uns ein in die lange Prozession erschöpfter Großstädter auf der Suche nach etwas Erholung vom Pandemie-Alltag in einem der zahlreichen Parks.
Aber warum bewegen wir uns überhaupt fort? An welcher Stelle der Evolution haben Organismen entschieden, dass es sinnvoll wäre, den Platz ihrer Entstehung zwecks kleinerer oder größerer Erkundungstouren zu verlassen? Robert Moor wollte es wissen. In seinem in einer Mischung aus wissenschaftlichen Fakten und humoristischen Anekdoten formulierten Sachbuch Wo wir gehen. Unsere Wege durch die Welt, folgt er den Pfaden von Tieren und Menschen durch die Geschichte und quer über den Globus.
Ausschlaggebend für diese Recherche – die keinen Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit erhebt, wie er sich gleich im Vorwort rechtfertigt – war seine Wanderung über den Appalachian Trail in den USA; auf dem rund 3.500 Kilometer langen Wanderweg hatte er ausreichend Zeit, über diese Fragestellung zu sinnieren. Aber was meint er eigentlich mit „Pfad“ genau?
„Ein Pfad ist ein Weg, um sich die Welt zu erschließen. Man kann eine Landschaft auf die unterschiedlichsten Arten durchqueren; die Möglichkeiten sind überwältigend, der Stolperfallen viele. Die Funktion eines Pfades besteht darin, dieses ausufernde Chaos auf eine einzige lesbare Linie zu reduzieren.“
Als allererstes, erfährt er von einem Paläontologen, hätten sich wahrscheinlich die Ediacara – Fossilien des Proterozoikums vor etwa 580–540 Millionen Jahren – von ihrem Platz wegbewegt, auch wenn es diesbezüglich bis heute bei Theorien geblieben ist. Richtige Pfade finden sich vor allem im Insektenreich, zum Beispiel bei den Ameisen, die im Trial-and-Error-Verfahren eine Ameise voranschicken, welche den Weg zur Nahrungsquelle sucht und dann mit Lockstoffen ihre Kameraden nachholt. Gleiches machen auch Tiere, immer erpicht darauf, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Etwas, was wir Menschen mit ihnen gemeinsam haben: Wer einmal im Park die abseits der angelegten Wege Trampelpfade – sie werden „Wunschlinien“ genannt – als Abkürzungen durchs Gebüsch bemerkt hat, dem werden sie immer wieder auffallen.
Sieben Jahre reist Moor durch Nordamerika – auch für die Zentrierung auf diesen Kontinent und das komplette Auslassen Europas oder Asiens entschuldigt er sich in seinem Prolog übrigens –, arbeitet als Schäfer, geht mit einem Jäger auf Jagd und lässt sich von einem Nachfahren der Cherokee erklären, wie sie sich Wege merken:
„Die Leute staunen, dass ich eine Karte des gesamten Westens von North Carolina zeichnen kann“, sagt er. „Ich kann alle Wasserscheiden einzeichnen. Ich kann vermutlich an die sechzig Cherokee-Städte eintragen. Und nicht, weil ich eine Liste im Kopf hätte, ich ich mir eingeprägt habe, A, B, C, D. Nein, ich stelle mir den Pfad vor, der über Rabun gap hinaufführt und dann nach unten zu den oberen Armen des Tennessee River…“
Neben den Wegen zur Nahrungssuche und Orientierung in einer fremden Landschaft widmet sich Moor auch einem Topos, der recht jung, dafür umso beliebter ist: Dem Wandern.
„Dem modernen Wanderweg mutet etwas Unheimliches an. Wir Wanderer gehen im Allgemeinen davon aus, dass es sich dabei um ein urzeitliches, erdgeborenes Werk handelt – alt wie Staub. Aber in Wahrheit wurde das Wandern in den letzten dreihundert Jahren von Städtern erfunden, die nach Natur gierten, und so keimten neue Wegformen auf, die ihren Hunger stillten.“

Längst ist Wandern zu einer umfangreichen Industrie geworden, angefangen bei Orientierungskarten für die Wanderrouten bis hin zu wichtigem bis überflüssigem Equipment, das man vermeintlich für eine derartige Unternehmung braucht. Wer bekannte Wanderwege wie den „West Highland Way“ in Schottland gehen möchte (wie ich es 2019 getan habe), sollte sich frühzeitig um Übernachtungsmöglichkeiten für die knapp 160 Kilometer lange Strecke kümmern: Der Weg ist beliebt, die Pensionen schnell ausgebucht.
Robert Moor hat sich dem philosophischen Thema des Gehens angenommen, ohne daraus eine verkopfte oder vor wissenschaftlichen Fachbegriffen strotzende Abhandlung zu machen. Im Gegenteil: Wo wir gehen ist kurzweilig und doch informativ und man folgt dem Autor gerne. Und es macht aufmerksam für die Pfade, die uns umgeben und die Frage, warum wir – ob im übertragenen oder im physischen Sinne – welchen Weg wählen. Nehmen wir gerne Abkürzungen oder bleiben wir auf dem Pfad, der als solcher gedacht ist? Nimmt man ein paar der Aspekte mit auf den nächsten Spaziergang – denn im Gehen denkt es sich bekanntlich leichter –, dann bekommen sogar die ewig gleichen Pfade durch die Nachbarschaft einen neuen Glanz.
Robert Moor
Wo wir gehen. Unsere Wege durch die Welt
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Sievers
Suhrkamp Verlag, 2020
Gebunden, 413 Seiten, 24 Euro

