Vögel
Bei den Tieren

Wilde Vögel fliegen

Charlotte McConaghys Debüt „Zugvögel“ handelt von Klimawandel, Egoismus, Verlust und Trauer – und ist ein ziemlich starkes Debüt.

Gegen Ende erwischt es mich dann doch: Mir laufen die Tränen die Wangen herunter. Für mich insofern bemerkenswert, weil ich bei Romanen eigentlich nie weinen muss. Mal habe ich einen erhöhten Puls und ein schweres Gefühl im Herzen. Aber Tränen? Nein.

„Die Tiere sterben. Bald sind wir hier ganz allein“, lautet der erste Satz im Debüt der 1988 geborenen irisch-australischen Charlotte McConaghy. Damit ist der zeitliche Rahmen gleich gesetzt, wir befinden uns in einer leider gar nicht so entfernten Zukunft, in der der Klimawandel zu einer starken Erderwärmung geführt hat, in dessen Folge ein Massensterben von Tieren und Pflanzen eingesetzt hat:

„Die Meeresschildkröten sind fort, weil die Strände, an denen sie immer ihre Eier ablegten, durch den erwähnten Anstieg des Meeresspiegels erodiert sind. Die Löwen sind nicht enden wollender Dürre zum Opfer gefallen, die Nashörner den Wilderern. […] Gerade jetzt sterben wieder Tausende von Spezies, ohne dass ihnen jemand Beachtung schenkt. Wir rotten sie aus. Lebewesen, die gelernt haben, alles und jedes zu überleben, alles, nur nicht uns.“

Das sind Worte von Niall Lynch, dem Ehemann der erzählenden Hauptfigur Franny; ein Biologe, der an der Universität im irischen Galway unterrichtet und sich für den Erhalt der Tiere, vornehmlich der Vögel einsetzt. Vögel sind auch Frannys Leidenschaft, als Kind fütterte sie unter anderem eine Gruppe Krähen, die ihr daraufhin überallhin folgten und Steine und glitzernde Gegenstände als Geschenke brachten. Schon immer war Franny eigenbrötlerisch, sie wuchs mit ihrer Mutter in einem kleinen Holzhaus an der irischen Küste auf und ging jeden Tag – egal bei welcher Temperatur – im Meer schwimmen.

Doch in dem Moment, in dem wir als Leser*innen Franny kennenlernen, liegt so einiges bereits im Argen, das ist spürbar. Franny wirkt nicht nur ruhelos, sondern furchtlos bis hin zur Selbstzerstörung; etwa, wenn sie dem Kapitän eines Fischkutters in ein eiskaltes Fjord in Grönland hinterherspringt, weil sie dachte, er wolle sich das Leben nehmen. Ihrem Ziel kommt sie mit diesem Einsatz einen wichtigen Schritt näher:

„Anfangs war es nichts als ein unmöglicher, närrischer Traum: die Vorstellung, mir einen Platz auf einem Fischerboot zu sichern und mich von dessen Kapitän so weit nach Süden bringen zu lassen, wie es nur geht; die Idee, einem Vogel auf seinem Flug zu folgen, der längsten Reise, zu der ein Lebewesen von Natur aus fähig ist. Aber der Wille ist eine große Kraft, und meiner wurde schon als entsetzlich bezeichnet.“

Die Besatzung will Franny nicht mitnehmen, aber diese bleibt hartnäckig und kann den Kapitän letztendlich davon überzeugen, drei von ihr mit Peilsendern ausgestatteten Küstenseeschwalben hinterherzufahren – denn die Vögel könnten das Schiff zu den noch verbliebenen Fischen führen. Ein riskantes Unterfangen, das eigentlich gar nicht gutgehen kann, was Franny aber einkalkuliert hat:

„Ich habe nicht das Leben satt, mit seinen erstaunlichen Meeresströmungen, seinen Eisschichten und den vielen zarten Federn, aus denen ein Flügel besteht. Ich habe mich selbst satt.“

Warum Franny diese starke Autoaggression zeigt – sie wird im Verlaufe der Geschichte noch mehrmals ins eiskalte Wasser springen und Erfrierungen und sogar den Tod riskieren – wird mittels Rückblenden nach und nach aufgerollt. Wir erfahren, wie Niall und Franny ungefähr fünf Sätze miteinander wechselten, bevor sie überstürzt heirateten; wir lesen, dass Franny eine Zeit lang im Gefängnis in Limerick eingesessen hat, dass sie als Kind von ihrer Mutter verlassen und nach Australien zur Mutter ihres Vaters, der ebenfalls nicht anwesend war, geschickt wurde.

Wir hören von Traumata, Schuld und Scham, unterdrückten Erinnerungen, dem ständigen Drang, wegzugehen und Geliebtes hinter sich zu lassen. „Zahme Vögel träumen von Freiheit, wilde Vögel fliegen“, lautet ein Spruch und Franny ist definitiv wild und ungezügelt. Sie kann sich nur spüren, wenn sie sich an ihre Grenzen bringt und diese dann – mit einer starken Todessehnsucht – übertritt. Sie ist eine Frau Anfang Dreißig, die sich weigert, ihr Büßergewand abzulegen, bevor sie ausreichend gelitten hat.

Zwischen Naturpoesie und Klimawandel

Mit Charlotte McConaghy hat eine Debütantin das literarische Parkett betreten, von der wir hoffentlich noch viele weitere Romane lesen dürfen. Denn diese Kunst, die Leser*innen Seite für Seite mit kleinen Häppchen der Information zu versorgen, die unterschwellig brodelnde Spannung derartig aufzuladen, dass man voller Ungeduld am liebsten vorspulen möchte, ist mir länger nicht mehr begegnet. Manchmal möchte man Franny an den Schultern packen und schütteln, und sie fragen, warum sie nicht endlich die Wahrheit erzählt, anstatt sich selbst immer weiter in Lügen zu verstricken und warum um Himmels Willen sie derart hart mit sich umgeht.

Eingebettet ist diese Geschichte von Schuld und Sühne in eine Mischung aus klassischem nature writing und heftiger Kritik am Klimawandel, den der Mensch – mit seinem überbordenden Egoismus und der Priorisierung ökonomischer Interessen – verursacht hat und trotzdem nicht aufzuhalten bereit ist. Am Ende wächst ein zartes Pflänzchen Hoffnung – für Franny und für die Natur.

Warum ich letztendlich die Taschentücher rausholen musste, sei an dieser Stelle natürlich nicht verraten. Wer in diesem Herbst aber mal wieder ein Buch aus der Kategorie „richtig, richtig gut“ lesen möchte, der kommt an Zugvögel nicht vorbei!

Charlotte McConaghy
Zugvögel
Aus dem Englischen von Tanja Handels
S. Fischer Verlag, 2020
Gebunden, 400 Seiten, 22 Euro

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