
Nach den Sternen greifen
Der kleine Angus möchte Wissenschaftler werden – und dafür begibt er sich in Lebensgefahr. „Die Himmelskugel“ von Olli Jalonen ist ein ungewöhnlicher Abenteuerroman, der im 17. Jahrhundert spielt.
Wir schreiben das Jahr 1679, Ort ist die unter der britischen Krone stehende Insel St. Helena im Südatlantik, abgelegen im Meer liegend zwischen Brasilien und Angola. Hier wächst Angus auf – „Angus von der Totholzebene“, wie er sich selbst nennt –, mit einem Neffen und einem Bruder, die fast gleich alt sind, weil seine Mutter und seine Schwester gleichzeitig schwanger wurden. Der Alltag ist geprägt von Feldarbeit und Entbehrungen, dazu kommen die verächtlichen Kommentare der Nachbarschaft, die sich über die „Bankerte“, also die unehelichen Kinder empören; Angus‘ Vater wurde vor ein paar Jahren von einem Baum erschlagen, der neue Nachwuchs entstand wahrscheinlich – so liest man es zwischen den Zeilen – durch nähere Begegnungen mit zwei britischen Forschern, die sich zeitweise auf der Insel aufhielten.
Einer von ihnen war Edmond Halley, der englische Sternenforscher, der sich später mit dem Halley’schen Kometen in der Naturwissenschaft unsterblich machte. Er beauftragt Angus damit, tagsüber in einem Baum zu sitzen und die verschiedenen Vogelarten zu zählen; auch nachts sitzt er auf den breiten Ästen, den Kopf eingebunden in eine Lederschlinge, um den Blick immer auf denselben Punkt am Himmel zu richten. Wie viele Sterne sieht er? Obwohl Halley dem Jungen nur ermöglichen wollte, etwas zu lernen, verbeißt sich Angus derart in sein Projekt, dass er sein ganzes Leben danach ausrichtet. Und seine Träume: Er möchte unbedingt nach England und dort alles über die Himmelskörper lernen.

Wir begleiten Angus auf dieser Expedition, die ihn sehr leicht das Leben hätte kosten können: Denn mithilfe der verführerischen Überredungskunst seiner Schwester hilft ihm ein Matrose, als blinder Passagier an Bord eines Schiffes zu gehen, doch er wird entdeckt und entsprechend behandelt. Nach vielen Monaten wird er dennoch endlich an der englischen Kreideküste ausspuckt. Edmond Halley ist überrascht, dass dieser kleine Junge – der mittlerweile schon im Teenie-Alter ist – derartigen Mut und Wissensdrang bewiesen hat und nimmt ihn tatsächlich in seinem Haus auf und in die Lehre. Angus hat sein Ziel erreicht – und steht doch erst am Anfang einer neuen Zeit.
Was Olli Jalonen mit Die Himmelskugel geschaffen hat, liest sich wie der altbekannte Topos der Heldenreise – junger Mann bekommt eine Aufgabe, begibt sich auf eine Reise und in Lebensgefahr, bis er an seinem Ziel ankommt, unterdessen ist er zu Reife gelangt – und weicht doch davon ab. Zwar verfolgt der Roman auch eine klassische Aufteilung in drei größere Teile, jedoch sind wir dem „Helden“ der Geschichte deutlich näher, als es in vergleichbaren Texten der Fall ist: Wir verfolgen das Geschehen nämlich aus der Sicht von Angus, und zwar aus der unmittelbaren Ich-Perspektive. Es gibt keine Distanz zwischen Angus und den Lesern, wir sind in seinem Kopf und lernen dort eine außergewöhnliche Persönlichkeit kennen, die aus einem „bildungsfernen“ Haushalt kommt und doch einen unstillbaren Wissensdrang sowie die Fähigkeit, über sich selbst und die eigene Entwicklung zu reflektieren, mitbringt:
„Aber auch ohne die Paradiesaufgabe habe ich das Gefühl, zu wachsen und älter zu sein, als ich es bin. Ich wäre schon zu wer weiß was fähig, aber da es noch nichts Großes gibt, muss ich auf meinem Platz abwarten und einfach sein, wie ich bin.“
In seinen Gedankengängen zeigt sich die tief verwurzelte Religiosität der einfachen Menschen auf St. Helena, in die sich immer wieder Aberglaube wie der an die „Banshee“ (eine Geisterfrau aus der keltischen Mythologie, die den Tod eines Menschen mit lautem Wehklagen ankündigt) einmischt – und die aufstrebende Aufklärung: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, wie hängen wir mit der Natur zusammen? Während Angus im Baum die Sterne beobachtet, hat er viel Zeit zum Nachdenken. So entstehen immer wieder naive Vorstellungen von Mensch und Natur, die eine kindliche Poesie in sich tragen:
„Eigentlich hat der Mensch ein Meer in sich. Es gibt ähnliche große Wellen und Wind, und am Abend geht die Dünung zurück. Macht die Dunkelheit sie im Meer kleiner, oder hat der Wind keine Kraft mehr zu blasen, wenn die Sonne untergegangen ist? Ein paarmal im Jahr ist es so windstill, dass man am Ufer sein eigenes Herz hören kann.“
Die Himmelskugel ist eine Geschichte voller Herz und Lebenswillen; man schmökert sie durch und wünscht sich, noch einmal Kind zu sein und die Welt so frisch und unzerstört zu sehen wie der kleine Totholz-Angus. Was wohl aus ihm geworden ist?
Olli Jalonen
Die Himmelskugel
Aus dem Finnischen von Stefan Moster
mare Verlag, 2021
Gebunden, 544 Seiten, 26 Euro
Titelbild: Unsplash / Keita Senoh

