
Klassiker des ’nature writing‘ – Teil I
Welche Texte aus dem ’nature writing‘ gehören zu den bekanntesten? Wir beginnen gleich mit einem der schönsten: „Der lebende Berg“ von Nan Shepherd.
Wenn es jemanden gab, der sich in der Bergkette der so genannten Cairngorms im Nordosten von Schottland auskannte, dann war es wohl Anna Shepherd: 1893 in Aberdeenshire geboren und damit nicht weit von den mächtigen Bergen entfernt, entdeckte ‚Nan‘ bereits als Jugendliche ihre Vorliebe für Ausflüge dorthin. Ob bei Regen oder Schnee, bei Sonnenschein oder undurchdringlichem Nebel, es gab kein ‚falsches‘ Wetter, um sich die Stiefel zu schnüren, die Thermoskanne mit heißem Tee aufzufüllen und loszulaufen. Mal hatte sie dabei ein klare Route vor Augen, doch häufiger ließ sie sich vom Berg überraschen:
„[…] oft gibt der Berg am meisten von sich preis, wenn ich kein Ziel habe, wenn ich auf nichts Besonderes aus bin, sondern bloß hinausgegangen bin, um Zeit mit dem Berg zu verbringen, so wie man einen Freund besucht zu keinem anderen Zweck, als Zeit mit ihm zu verbringen.“
Der Berg, das liest man sehr schnell heraus, ist für Shepherd keine unbelebte Ansammlung von kalten Steinen, sondern ein lebendiges Wesen mit einem eigenen Charakter, der im Zusammenspiel mit den unzähligen Formen von Wetter, binnen Minuten von einladend freundlich zu lebensgefährlich ablehnend wechseln kann.
Doch Shepherd bedient sich in den Beschreibungen ihrer Begegnungen mit den Cairngorms – die sie bereits 1944 während der letzten Kriegsmonate aufschrieb, aber erst 1977 veröffentlichte – keinem platten Animismus oder Anthropomorphismus. Ihre zwölf kurzen Kapitel beschreiben ihre sinnliche Art, die Natur der Berge zu erleben:
„ […] hin und wieder tritt ein Moment ein, in dem fast völlige Stille herrscht, und lauscht man ihr, lässt man die Zeit hinter sich. Solche Stille ist nicht einfach die Abwesenheit von Geräuschen. Sie ist wie ein neues Element […] Die Menschheit ist mit Geräuschen übersättigt, doch hier oben wirkt diese nackte, diese elementare Wildheit, dieser winzig kleine Geräuschquerschnitt der Kräfte, die seit Äonen im Universum am Werk sind, eher erregend als niederschmetternd.“
Sie fühlt die Stille wie eine Berührung auf der Haut, schmeckt die Süße der verschiedenen Beeren, die an den Hängen wachsen, sie schnuppert sich durch die Luft wie ein Hund und gräbt sich in die Erde: „Den erdigen Geruch von Moos und der Erde selbst nimmt man am besten wahr, wenn man darin herumwühlt.“
Eine körperliche Erfahrung
Warum sie sich derart an in brutale und gequälte Form gehackten Steinblöcken erfreuen kann, weiß sie sich manchmal selbst nicht zu erklären. Oder tut es absichtlich nicht. Denn das Gehen in den Berg – Shepherd betont immer wieder nicht nur die Außenseite der Berge, sondern auch ihr uns meist verborgenes Inneres – ist eine zutiefst körperliche Erfahrung, bei der man das Denken völlig hinter sich lassen kann.
Wer stundenlang einen Fuß vor den anderen setzt, dabei umgeben von schneebedeckten Gipfeln und störrischem Heidekraut, dessen Kopf schaltet sich irgendwann von alleine aus. Platz ist jetzt für eben diese sinnlichen, teilweise fast schon mystischen Erfahrungen, die aufzeigen, wie stark und gleichzeitig verletzlich die Natur ist. Eine Erfahrung, die ich ebenfalls machte, als ich vor zwei Jahren den West Highland Way durch Schottland lief und dabei ähnliche Gegenden durchwanderte, wie Shepherd es tat.
Nan Shepherd studierte an der University of Aberdeen, arbeitete später als Dozentin an einem College – und kehrte, wann immer sie konnte, in die Cairngorms zurück, um zwischen Schneehühnern, Rothirschen und Fichtenwäldern zur Ruhe zu kommen. Ihre Erinnerungen an den „lebenden Berg“ gehören zu den wichtigsten Texten des ’nature writing‘ – und das zu Recht.
Nan Shepherd
Der lebende Berg
Aus dem Englischen von Judith Zander
Matthes und Seitz, 2017
Broschur, 184 Seiten, 20 Euro
Büchergilde, 2020
Hardcover, 184 Seiten, 18 Euro
Nan Shepherd
The Living Mountain
Canongate Books, 21 Euro

