Bei den Pflanzen

Im Herbarium

Wie wird man Botaniker und was bedeutet es heutzutage, diesen Beruf auszuüben? Marc Jeanson erzählt in „Das Gedächtnis der Welt. Vom Finden und Ordnen der Pflanzen“ seine Geschichte.

Die Welt ist ein Mysterium mit unzähligen unlösbaren Geheimnissen? Manche mögen sich mit dieser Idee zufriedengeben – nicht so die Naturwissenschaftler. Seit Jahrhunderten gehen Menschen auf Forschungsreisen, um neue Spezies zu entdecken, zu benennen und zu katalogisieren. Das Ziel: Auch die letzte Art auf diesem Planeten soll in ein Klassifizierungssystem eingeordnet sein.

Das mag ein wenig platt formuliert sein, gilt im Großen und Ganzen aber nicht nur für historische Figuren wie Alexander von Humboldt oder Carl von Linné, die mit ihren Forschungen die Naturwissenschaften maßgeblich prägten, sondern auch für zeitgenössische Botaniker. Und dazu gehört Marc Jeanson. Der Franzose, der mit Charlotte Fauve zusammen in „Das Gedächtnis der Welt. Vom Finden und Ordnen der Pflanzen“ seinen Werdegang vom Planzen liebenden Kind bis zum Leiter des Herbariums in Paris – dem größten der Welt – aufgeschrieben hat, nimmt uns mit auf eine Reise durch die Geschichte der Botanik. Dabei stellt er gleich klar: Heute ist das alles anders als vor zwei-, dreihundert Jahren:

„Ich lebe nicht im 18. Jahrhundert. […] Gestern pflückte man, wie man atmete, heute ist der Zugang zur Biodiversität durch internationale Abkommen versperrt: Vor dem Wald aus Bäumen erstreckt sich der Wald aus Genehmigungen, Sammelerlaubnissen, Ausfuhrbestimmungen. […].“

Jeanson ist auch nicht mehr gezwungen, monatelang auf einem Schiff zu verbringen, um in die Südsee zu reisen, immer mit der Befürchtung im Nacken, dass man dort vielleicht gar nicht ankommt – er setzt sich einfach in den nächsten Flieger und merkt nicht, dass er verschiedene Zeitzonen durchquert.

Doch die Faszination, die seine botanischen Ahnen hinaus in die Welt getrieben hat, legt auch er an den Tag. So entscheidet er sich eines Tages, dass er unbedingt „Palmologe“ werden möchte – ein wundervoller Begriff, finde ich – und sich fortan der detaillierten Erforschung von Palmen zu widmen. Wer sich mit der Welt der Pflanzen beschäftigt, kommt nicht umhin, den dramatischen Schwund der Arten zu bemerken, auch Jeanson erwähnt immer wieder den Begriff der Biodiversität und die Befürchtung, in Zukunft lauter letzte Exemplare längst ausgestorbener Pflanzen in seinem Herbarium zu hüten.

In kurzen Kapiteln lässt sich das Autoren-Team durch die Geschichte der Pflanzenkunde treiben, erzählt Anekdoten aus den Lehrjahren Jeansons und von dem Pariser Herbarium, das mit seinen unzähligen Schränken und Fächern wie der Turm von Babel für Pflanzen wirkt; immer wieder erzählt es von Expeditionen vergangener Jahrhunderte, erweckt die Forschungen von Michel Adanson oder Pierre Pauvre zum Leben. Und die Illustrationen von Nils Hoff bringen Farbe und Leben in den Text.

„Außer mit Schiffbrüchen und Krankheiten schlugen sich die Forscher von gestern mit Mythen und Monstern herum, die so hartnäckig in ihrer Phantasie verwurzelt waren wie ein Schwingelhorst in der Erde. Einst war die ferne Welt bewohnt von blumenfressenden Wilden und menschenfressenden Blumen. […] Wenn man weiß, welchen Gefahren und Ängsten diese Menschen trotzen mussten, dann wird es fast zu einem Wunder, Teile ihrer neu entdeckten Flora in Händen zu halten.“

Manchmal liest sich dieses Herumspringen durch Anekdoten und Wissenschaftsgeschichte zwar leicht verwirrend, doch steckt wahrscheinlich ein Gedanke dahinter: So wie man in einem Herbarium mit jeder geöffneten Schublade unzählige Anknüpfungspunkte für weitere Recherchen findet, öffnet auch „Das Gedächtnis der Welt“ die Tür zu weiteren Erkundungen – und macht große Lust darauf, selbst ein (im Vergleich klitzekleines) Herbarium anzulegen!

Charlotte Fauve, Marc Jeanson
Das Gedächtnis der Welt. Vom Finden und Ordnen der Pflanzen
Übersetzt aus dem Französischen von Elsbeth Ranke
aufbau Verlag, 2020
Gebunden, 224 Seiten, 22 Euro


2 Kommentare

  • Petra K.

    Hallo Julia,
    ein wunderbarer Blog, den ich gerade zufällig entdeckt habe. Im letzten Jahr habe ich auch für mich zahlreiche Bücher entdeckt, die sich mit der Natur in ihren verschiedenen Facetten beschäftigt. Es mag daran liegen, dass das Spazierengehen in der Natur vielfach zum neuen Hobby geworden ist, aber ich glaube nicht, dass mein Interesse an dieser Literatur wieder schwindet, wenn mal wieder mehr soziales Leben möglich ist.
    Natürlich habe ich auch „Das Haus am Rand der Welt“ von Henry Beston gelesen und war absolut hingerissen von diesem Text. Dieses Buch war für mich sozusagen der Türöffner zum „natural writing“. Es folgten sodann zahlreiche weitere Texte aus diesem Genre. Gerade ausgelesen habe ich „Die feine New Yorker Farngesellschaft“ von Oliver Sacks (in einer wunderbaren neuen Reihe in der Büchergilde Gutenberg erschienen). Ein grandioses Buch über Botaniker und Menschen, die sich dafür halten, über Farne, über Mexiko und über das Reisen in einer Gruppe. Ich kann dir das Buch wirklich empfehlen.
    Deine wunderbare Besprechung zu „Das Gedächtnis der Welt – Vom Finden und Ordnen der Pflanzen“ hat mich sofort angesprochen. Das Buch steht jetzt ziemlich weit oben auf meiner „to read“-Liste. Aber auch viele andere Empfehlungen im „LiteratUrwald“ haben mich neugierig gemacht. – Vielen Dank dafür!
    Petra

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