
Einsamkeit im Grünen
Was machst du, wenn deine Welt so aus den Angeln gehoben wird, dass du deinen Augen (wortwörtlich) nicht mehr trauen kannst? Howard Axelrod zieht in den Wald.
Kurz vor Ende seine Studiums war Howard beim Basketball spielen so ungünstig mit einem Mitspieler zusammengeprallt, dass ein Finger sich in sein Auge bohrte und dieses irreparabel zerstörte. Von heute auf morgen steht sein ganzes Leben Kopf: Auf dem einen Auge blind, verändert sich das Sehfeld, gewohnte Wege nehmen Stunden in Anspruch, Entfernungen können nicht mehr richtig eingeschätzt und Umrisse kaum noch erkannt werden.
Während Familie und Freunde einerseits ihr Bestes geben, um ihn zu unterstützen, gleichzeitig aber den Vorfall am liebsten unter den Tisch kehren wollen – „Ist doch alles beim Alten, oder?“ – findet sich der junge Mann nicht mehr zurecht. Nach einem Auslandsjahr in Italien kehrt er verzweifelt und überfordert zurück – und ergreift die erstbeste Gelegenheit, auszubrechen. Er mietet sich eine einsame Hütte im Wald, die meilenweit von den nächsten Nachbarn entfernt ist, und nistet sich dort ein.
„Dass ich hierher in die Wälder gekommen war, hatte nichts mit einer Herausforderung oder mit einem Rückzug zu tun – es war nichts, wozu ich mir Notizen machen wollte, um es für später zu konservieren, wie Beeren, die man im Sommer für später sammelt. Ich wollte einfach leben, ohne mich für irgendjemanden verstellen zu müssen, mich selbst eingeschlossen.“
In der Stille des Waldes, in der Stille seiner Gedanken kann er sich neu organisieren, sehen und hören lernen und sich auf das besinnen, was ihm wirklich wichtig ist. Doch so schön es ist, dem Schnee beim Schmelzen zuzuschauen und die Vögel zwitschern zu hören: Irgendwann ist gut mit der selbst auferlegten sozialen Isolation und es dürstet ihn nach zwischenmenschlichen Kontakt – ein Unterfangen, was nach so viel Eigenbrötlerei gar nicht so einfach ist. Und wie laut, hektisch und oberflächlich ist bitte das Leben in der Stadt?
„So vieles an der Einsamkeit, wurde mir bewusst, basiert auf reinem Sozialneid, auf der Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Aber ohne Aussicht darauf, je dazuzugehören, verflüchtigt sich dieser Aspekt mit der Zeit.“

Howard Axelrod hat – auch wenn er das, wie er immer wieder erwähnt, zu Beginn seines Rückzugs nicht geplant hatte – ein Buch über seine Rückkehr ins Leben geschrieben. Was ja auch dazu passt, dass der Titel Allein in den Wäldern vom Untertitel Auf der Suche nach dem wahren Leben begleitet wird. Aber was ist das wahre Leben, wo finden wir es und wenn wir es gefunden haben: Wie leben wir es? Gibt es ein richtiges Leben im falschen und umgekehrt? Und kann es wirklich funktionieren, jahrelang nur auf sich selbst zurückgeworfen zu sein?
In seinen, nunja, Memoiren philosphiert Axelrod eine ganze Menge, erzählt dem Leser aber auch seine komplette Lebensgeschichte. Das geht leider zu Lasten der Naturerfahrungen, die vergleichsweise wenig Raum in der Geschichte einnehmen, obwohl sie offenbar eine zentrale Rolle in der Waldeinsamkeit gespielt haben. Gefühlt ist der Autor zu sehr in seiner Vergangenheit verhaftet, als dass er sich vollständig auf die idyllische Umgebung einlassen könnte und deshalb auch mehrere Jahre braucht, um wieder zu sich zu finden. Dennoch entwickelt man als Leser recht schnell eine Sympathie für den Autor, der ja mit dem Erzähler identisch ist, begleitet ihn durch Zweifel und Höhenflüge und lernt durch ihn und mit ihm, die Welt ein Stückchen anders zu sehen.
Howard Axelrod
Allein in den Wäldern. Auf der Suche nach dem wahren Leben
Kösel Verlag, 2017
Gebunden, ca. 290 Seiten, 19,99,-€
ISBN: 978-3-466-34654-7
