
Die Weisheit der Flechten
Wir gehen mit Navi und Bestimmungsbüchern in den Wald – aber wie können wir lernen, uns intuitiv zu orientieren? Tristan Gooley zeigt es uns.
„Wie war das nochmal: wachsen Moos und Flechten an Bäumen nicht immer auf der Seite, die nach Norden liegt – weil sie am wenigsten Sonne abbekommt?“ frage ich während einer unserer Wanderungen durch Berliner Wälder. „Hmm, ich glaube das hat auch noch etwas mit der Windrichtung zu tun, aber sicher bin ich mir nicht“, antwortet meine Begleitung. Weil wir uns in diesem Moment auf einem Waldweg befinden und recht genau wissen, aus welcher Richtung wir kommen und wohin wir gehen, beschäftigen wir uns nicht weiter mit dieser Frage – denn stundenlanges Spekulieren würde uns jetzt auch nicht weiterbringen.
In seinem 400 Seiten starken, aber absolut kurzweiligen Buch Unsere verborgene Natur. Honig hören, die Himmelsrichtung fühlen, die Dämmerung riechen – Wie wir unser angeborenes Gespür für die Natur wiederentdecken (Im Original ist der Titel nicht weniger lang: Wild Signs and Star Paths. The Keys to Our Lost Sixth Sense) möchte Tristan Gooley uns beibringen, wie wir uns in Zukunft solche Fragen gar nicht mehr stellen müssen; nicht nur, weil wir die Antwort wissen, sondern weil wir die Zusammenhänge in der Natur spüren.
„Je mehr Zeit wir in der Natur verbringen, desto mehr werden Naturphänomene folglich für uns an Bedeutung gewinnen. Wenn Sie bestimmte Tierspuren oder Blätter wiedererkennen, gewöhnen Sie sich an das gute Gefühl, das dadurch ausgelöst wird, und umso wichtiger wird es Ihnen werden, diese Fähigkeit weiterzuentwickeln.“
Aber wo anfangen? Zum Beispiel mit etwas ganz Einfachem: Den Bäumen und der Windrichtung. Wer eine Allee oder einen Feldweg entlangfährt, wird erkennen können, dass sich die Bäume in eine Richtung neigen – mal mehr, mal weniger stark. Man muss kein naturwissenschaftliches Studium absolviert haben, um daraus abzuleiten, dass die Bäume über viele Jahre durch den Wind sozusagen in eine Richtung „gebürstet“ wurden und sich vom Wind wegducken – und der wiederum weht meistens aus einer Richtung.
In unseren Breitengraden kommt er für gewöhnlich aus Westen und biegt die Bäume zum Osten hin. Wenn man noch hinzunimmt, erklärt Gooley, dass die Äste eines Baumes, die nach Süden hin ausgerichtet sind, eher waagerecht und die nach Norden ausgerichteten eher senkrecht wachsen, hat man mirnichtsdirnichts die Himmelrichtungen bestimmt und findet den Weg nachhause. Im Idealfall geben euch noch Sonne und Tageszeit einen wichtigen Hinweis.

Foto: Unsplash – Adrian Pelletier
Eine weitere Möglichkeit, die euch bei Nacht behilflich sein kann, ist das Sternbild Orion. Das ist aufgrund der extrem hell leuchtenden und nah beieinander stehenden drei Sterne – dem „Gürtel des Orion“ – gut erkennbar und sogar in einer lichtverschmutzten Metropole wie Berlin sichtbar. Vorausgesetzt natürlich, es ist nicht bewölkt. Wie orientiert man sich daran?
„Dieses Sternbild geht im Osten auf und im Westen unter. Wenn Sie Orion also nahe am Horizont sehen, heißt das, Sie schauen entweder in Richtung Osten oder in Richtung Westen. Wenn das Bild nach einer halben Stunde ein wenig höher am Himmel steht, wissen Sie, dass Sie nach Osten schauen. Steht es ein wenig tiefer, heißt das, Sie schauen nach Westen.“
Tristan Gooley, das merkt man sehr schnell, kennt sich nicht nur auf der faktenbasierten Ebene mit Tieren, Pflanzen und den Elementen aus und kann Naturphänomene und Verhaltensweisen auf leicht verständliche Art erklären – er fühlt seine Umgebung intuitiv. Er unterscheidet dabei zwischen dem „langsamen Denken“, also dem Vorgehen, erstmal gründlich über ein Sternbild oder das Verhalten eines Tieres nachzudenken und es zu deuten, und dem „schnellen Denken“, womit unsere Intuition bezeichnet ist.
Zurück zu den Instinken
Besteht Gefahr, schüttet unser Körper Adrenalin aus, Herz- und Atemfrequenz werden erhöht und wir gehen in den fight-or-flight-Modus, ohne dass wir auch nur eine Sekunde rational darüber nachgedacht haben, was wir jetzt tun sollten. Denn so sehr uns moderne Menschen das urbane, zivilisierte und analysierende Leben von der „wilden“ Natur getrennt hat, so sehr sind wir an der Basis einfach nur Säugetiere – und unsere Instinkte funktionieren in wichtigen Momenten zum Glück noch immer.
Wer sich wieder stärker mit seinen angeborenen Instinkten auseinandersetzen möchte, kann bei Tristan Gooley zum Beispiel lernen, wie man sich Tieren nähern kann, ohne sie in die Flucht zu schlagen, welche Pflanzen auf die Nähe von Wasser hinweisen und wie man an einer halb aufgetauten Pfütze erkennen kann, wo Süden ist.
Navi? Überflüssig!

Und ja, auch die Sache mit dem eingangs erwähnten Moos und den Flechten wird erklärt: „In Mischwäldern kann die Sonne stellenweise das Blätterdach durchdringen, wodurch sich der Einfluss des Lichts an den Baumrinden ablesen lässt. Flechten bedecken die Baumrinde von allen Seiten mit Farbe. […] Die helleren Flechten befinden sich meist auf der Südseite der Bäume, die wir sehen, wenn wir uns nach Norden wenden. […] Wenn wir bei jedem Spaziergang durch den Wald die Richtung, in die wir schauen, mit den Farben auf Baumrinden kombinieren, kommt schon bald der Moment, in dem uns die Farben ohne jeden Aufwand die Richtung anzeigen.“
Wer diese eigentlich sehr einfachen Hinweise einmal verinnerlicht hat, wird in Zukunft eine Menge Freude an Spaziergängen und Wanderungen haben – und ganz ohne Navigationssystem zurechtkommen.
Tristan Gooley
Unsere verborgene Natur. Honig hören, die Himmelsrichtung fühlen, die Dämmerung riechen – Wie wir unser angeborenes Gespür für die Natur wiederentdecken
Aus dem Englischen von Jasmin Hofmann
Ludwig Verlag, 2020
Gebunden, 416 Seiten, 22 Euro
Titeltbild: LiteratUrwald

