Eis
Am Wasser

Die Unschuldigen

Zwei Kinder allein in der Kargheit Neufundlands: „Die Unschuldigen“ von Michael Cummey ist ein Roman über die Herausforderung, mitten in der wilden Natur zu leben.

Evered und Ada, elf und neun Jahre alt, haben es nicht leicht. Sie sind noch Kinder, als sie in kurzem Abstand ihre neugeborene Schwester, dann ihre Mutter begraben müssen; nur wenige Monate später stirbt auch der Vater, wahrscheinlich an Schwindsucht wie zuvor seine Frau. Was sollen sie jetzt tun?

„Beinahe zwei Monate verbrachten sie in einem Schwebezustand, verkrochen im grauen Halbdunkel der Hütte, ohne jedes Bedürfnis oder Interesse, das über die Gesellschaft des anderen hinausging. Doch als die Tage länger wurden, überkam die Kinder ein vages Gefühl der Erwartung, ohne dass sie hätten sagen können, worauf sie eigentlich warteten […]“

Weil sie schon vorher mutterseelenallein in einer kleinen Hütte an einer von Eis überzogenen Bucht an der Neufundländischen Küste ohne Nachbarn oder Dorfgemeinschaft lebten, bleibt ihnen auch jetzt nichts anderes übrig, als sich selbst zu versorgen. Die nächste Stadt ist ein paar Stunden mit dem Boot entfernt und nur jedes halbe Jahr kommt ein Schiff vorbei, sammelt das von der Familie gepökelte Robbenfleisch und den Fischfang ein und lässt als Gegenleistung Lebensmittel für die kommenden Monate dort.

Als die „Hope“ das nächste Mal anlegt, gelingt es Evered, der trotz seiner jungen Jahre bereits graue Haare hat, den Geschäftsmann davon zu überzeugen, dass er und seine Schwester das Unternehmen weiterführen können – denn nichts wäre für die Beiden schlimmer, als ihr Zuhause, sei es noch so karg, zurückzulassen.

So beginnt ein Leben voller harter Arbeit in eisiger Kälte, voller Entbehrungen und auch Krankheiten; alles getragen von dem wenigen Wissen, das den beiden Kinder vor dem Tod ihrer Eltern beigebracht wurde oder das sie sich im Verlaufe der Jahre selbst angeeignet haben. Sie wissen alles über Fisch- und Robbenfang und wie man diesen haltbar macht, welche Kräuter und welcher Sud bei Krankheiten hilft und wie man die wachsenden Gliedmaßen mit Stofffetzen gegen die harschen Temperaturen schützt.

„Das letzte Pökelfleisch war lange vor Neujahr aufgebraucht, und ihre dünnen Körper verloren noch mehr Gewicht. Doch im März brachte das Eis aus der Labradorsee zahlreiche Robben, und Evered tötete und flenste ein halbes Dutzend, ehe das Packeis auseinanderbrach und davontrieb. Sie aßen das tranige Fleisch zu jeder Mahlzeit, bis einen Monat später der Hering in die Bucht kam und sie im Gesicht des anderen sahen, ass sie wieder Fleisch auf die Knochen bekamen.“

Ab und an kommt ein Teil der Schiffsbesatzung an Land, ein paar zotige Seemannslieder auf den Lippen und harten Alkohol im Gepäck – die einzigen Vorbilder männlichen Geschlechts, die Evered zur Verfügung stehen. Ada muss ohne solche aufwachsen; die Erinnerung an ihre Mutter verschwimmt mit der Zeit, ebenso wie an die rätselhafte Hebamme und Kräuterfrau Mary Oram, die seinerseits mit Adas Hilfe deren kurz darauf verstorbene Schwester auf die Welt holte. Und was wird passieren, wenn die beiden Geschwister ihre Sexualität entdecken?

Michael Crummey, selbst in Neufundland aufgewachsen, hat einen Roman geschrieben, der von Eisbergen und Entbehrungen erzählt, aber dennoch sehr viel Wärme ausstrahlt. Als Leser*innen stehen wir täglich mit Ada und Everett auf, mit dem Wissen, dass wir uns das Essen selbst fangen müssen; dass uns die Kälte Eiszapfen an die Augenbrauen hängen wird und wir am Abend so müde sein werden, dass wir komplett angezogen und mit Schuhen aufs Bett fallen.

Wir schauen den Geschwistern dabei zu, wie sie von Kindern zu Erwachsenen werden und sich am Ende der Kreis wieder schließt – wie er das tut, das sei hier nicht verraten. Ada und Evered, Evered und Ada: Zwei außergewöhnliche literarische Figuren, die einem noch lange nach der Lektüre nicht aus dem Kopf gehen.

Michael Crummey
Die Unschuldigen
Aus dem kanadischen Englisch von Ute Leibmann
Eichborn Verlag, 2020
Gebunden, 351 Seiten, 22 Euro

Kanada ist Gastland der Frankfurter Buchmesse, und zwar ausnahmsweise in den beiden Jahren 2020 und 2021 – hier geht es zu weiteren Romanen aus Kanada.

Titelbild: Annie Spratt

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert