Bär
Im Wald,  Sagenhaftes

An das Wilde glauben

Eine Frau wird in den russischen Wäldern von einem Bären gebissen: „An das Wilde glauben“ von Nastassja Martin changiert zwischen Traum und Wirklichkeit.

Nastassja Martin ist Anthropologin und seit längerer Zeit auf einer Forschungsreise im tiefsten Russland unterwegs, als sie im Wald von einem Bären angegriffen wird. Er reißt ihr ein Stück ihres Kiefers und zwei Zähne aus, bricht ihr das Jochbein, zerkratzt ihr die Kopfhaut und beißt in ihr Bein. Nastassja überlebt nur, weil sie nach einem Eispickel in ihrem Gepäck greifen und das Tier mit einem Stich in die Flucht schlagen kann.

Es folgen Wochen voller Operationen in verschiedenen Krankenhäusern der Gegend, rabiaten Behandlungsmethoden der Schwestern und einem nicht enden wollenden Zustand zwischen verstörenden Träumen und schmerzvollem Wachen. Zu ihrer äußerlich sichtbaren Entstellung kommt eine innere Transformation:

„Ich sehe mir nicht mehr ähnlich, mein Kopf ist ein mit roten, geschwollenen Narben, mit Nähten überzogener Ball. Ich sehe mir nicht mehr ähnlich und bin dabei meinem animischen Wesen noch nie so nah gewesen; es hat sich meinem Körper aufgeprägt, seine Textur zeugt zugleich von einem Übergang und einer Rückkehr.“

Was viele Wissenschaftler der westlichen Welt ablehnen, nennt Nastassja Martin ganz selbstbewusst als Teil ihrer Arbeit: Den Animismus, also den Glauben daran, dass Pflanzen, Tiere oder Steine – alles, was uns umgibt – beseelt und dem Menschen ebenbürtig sind. Die Autorin studierte bei Philippe Descola, der sein Handwerk wiederum bei Claude Leví-Strauss erlernte – zwei international bekannte Anthropologen mit Schwerpunkt Animismus als Ziehväter zu haben, hinterlässt unweigerlich seine Spuren.

Für Martin steht es also außer Frage, dass sich bei dem Kampf mit dem Bären ihre Seelen vermischt haben; sie wurde zur „miedka“ – der Begriff bezeichnet Menschen, die die Begegnung mit einem Bären überlebt haben und fortan „halb Mensch, halb Bär“ sind. Doch für die knapp Dreißigjährige ist diese Vorstellung weniger mythologisch-romantisch denn mit Angst besetzt:

„Ich habe keine richtigen Schmerzen. Ich habe nur Angst, Angst vor all dem, was in mir nicht wieder geschlossen ist, was sich möglicherweise in mich eingeschlichen hat. In meinem Gedächtnis lauern andere Wesen; vielleicht lauern dann auch welche unter meiner Haut, in meinen Knochen. Diese Vorstellung flößt mir Schrecken ein, weil ich kein besetztes Gebiet sein will.“

Dass sie, gleich nachdem ihr Kiefer verheilt ist, wieder nach Russland fliegt und sich zu Freunden in den schneebedeckten Wäldern an den Kamin der Jurte setzt, kommt einer Flucht gleich: Und zwar einer Flucht nach vorn. Zuhause in Frankreich, wo ihre Familie und Freunde sie ratlos anschauen, wenn sie von ihren Albträumen und dem Gefühl, nicht mehr ganz sie selbst zu sein, erzählt, findet sie keine Ruhe: „Ich habe meinen Platz verloren, ich suche ein Dazwischen“. Es scheint, als könne sie ihre Existenz nur spüren und sogar rechtfertigen, wenn sie bis an ihre Grenzen und sogar darüber hinaus geht – etwas, was ihr die westliche, dem Rationalismus erlegene Gesellschaft nicht geben kann:

„Wir müssen der Entfremdung entkommen, die unsere Zivilisation erzeugt. Aber Drogen, Alkohol, Melancholie und schließlich Wahnsinn und/oder Tod sind keine Lösung, man muss etwas anderes finden. Das ist es, was ich in den Wäldern des Nordens gesucht, was ich nur teilweise gefunden habe, was ich weiter verfolge.“

Wir folgen der Anthropologin nicht nur auf ihrer äußeren Reise, sie lässt uns auch an ihren psychischen Prozessen teilnehmen: Wenn sie rohe Leber und rohes Herz von Rentieren isst und ihr Blut trinkt, an Schlachtungen teilnimmt und sich durchdringen lässt von diesen archaischen Ritualen, die womöglich genau so bereits vor tausenden von Jahren stattgefunden haben, wird sie zum Tier – und bleibt doch sie selbst.

Die Worte, die Nastassja Martin für ihre schicksalshafte Begegnung mit einem Bären findet – und die von Claudia Kalscheuer kongenial aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt wurden –, sind von einer bestechenden Klarheit und gleichzeitig einer mythischen Kraft gezeichnet. Ihren Träume misst sie einen ebenso hohen Stellenwert zu wie ihren Erlebnisse bei Tag; auch wenn die Grenzen zwischen ihnen manchmal zu verschwimmen scheinen und die Autorin sich mit Lust an dem Unbekannten ihren Phantasien überlässt, bleibt sie dennoch vertrauenswürdig. Es gibt deutliche märchenhafte Züge – aber es ist kein Märchen.

Es gelingt ihr trotzdem, etwas Archetypisches anzusprechen, das viele Menschen in sich tragen, aber nur noch in Extremsituationen fühlen: Das Rohe, Ungezähmte, Wilde in uns; das Eingebunden sein in den Kreislauf der Natur, die Verbindung mit den Dingen um uns herum. Inmitten städtischer Altbauarchitektur lässt sich der Zugang zu diesen tief verschütteten Mechanismen nur schwer herstellen. Aber es lohnt sich, sich auf die Suche danach zu begeben. Man muss dafür nicht unbedingt mit einem Bären auf Tuchfühlung zu gehen – es reicht erstmal die Lektüre dieses Buches.

Nastassja Martin
An das Wilde glauben
Aus dem Fanzösischen von Claudia Kalscheuer
Matthes & Seit Berlin, 2021
Gebunden, 139 Seiten, 18 Euro

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